„If we celebrate it“ (John Cage)

Das schöpferische Credo des Komponisten John Cage lässt die Grenzen zwischen künstlerischem Tun und den Alltagen verschwinden. Es kann auch Kunst sein, würdevoll eine Tür zu durchschreiten…
Jeder Augenblick ist in sich ein gleichberechtigter Baustein im Schöpfungsprozess… alles kann beim Kunstmachen wie im Leben zum Fest werden: jeder Wassertropfen, jede Farbspur, ein Wasserzeichen, eine erinnerte Textspur, die sich in das Kunstwerk einschreibt, dort wo die Farbe ein Fest feiert, zu sich selbst kommt, sich ihren Weg bahnt. Der Widerstreit zwischen Gestaltung und einfach im Augenblick das Sein feiern können, bestimmt meinen Weg als Künstlerin. Gerne begehe ich diesen Weg mit Anderen zur Verlebendigung von Räumen und scheinbar unlösbaren Lebenssituationen.

Michaela_Seliger_Vita

1963

geboren in Frankfurt/Main

1982

Studium der Philosophie und Kunstgeschichte an der Freien Universität Berlin und Studium der Photographie und

Malerei an der Hochschule der Künste Berlin bei Prof. Dieter Appelt

1983

Gründung der Produzentengalerie „Gras Fressen“ mit Paul Revellio, H.H.Zwanzig, Martin von Ostrowski, Petra Warnke und Susanne Knaack

1986/87

Druckgraphikausbildung mit Diplom, an der „Central School of Art and Design“ London

1990

Ernennung zum „Meisterschüler“ von Prof. Herbert Kaufmann an der HdK Berlin

1997 – 2001

Kunst –und Kulturmanagement an der Hochschule für Politik und Wirtschaft, Hamburg

2002

Lehrauftrag im „Printmaking College“, New-Jersey

2005

Lehrauftrag „experimentelle Malerei“ an der Kunsthochschule Riga, Lettland

seit 2005 bis heute

Atelierstipendium gefördert durch den Senat der Stadt Berlin, dort PR-Arbeit,
Kreativwerkstatt, Ausstellungen und Kunsttherapie

seit 2006

Lehrauftrag an der „Freien Universität Berlin“ mit dem Themenschwerpunkt „aktuelle Kunst vor Ort“, Führungen durch Berliner Atelierhäuser, ebenfalls für andere Auftraggeber

2006 – 2008

Gründung des Internetlabels „ARTGAIN“ und „ARTCOACH“ und „flowgo“

Kunsttherapieausbildung am „campus naturalis“ sowie Heilpraktikerausbildung

seit 2010

Aufbau eines offenen Malateliers im Paul Gerhardt Stift, Wedding

seit 2012

Kunstvermittlung für den „Verein Berliner Kaufleute“ , VBKI

Freie künstlerische Arbeit im Atelier 488, dort auch Konzepte für Rauminstallationen und Kunst-basierte Raumlösungen

Gegen den rasenden Stillstand

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Eine der jüngsten Arbeiten von Michaela Seliger besteht aus einem ausrangierten alten Fernsehgerät, das sie fast vollkommen mit Wachs bestrichen hat. Lediglich die Mitte der Mattscheibe ist kreisrund freigelassen. Auf dieser ausgesparten Fläche befindet sich eine ebenfalls mit Wachs und Farbe bemalte Zielscheibe, in die drei blaue Wurfpfeile eindringen. Eingeschaltet erzeugt das Gerät das bekannte monotone Geräusch und schwarz-weiße (eigentlich bläuliche) Flimmern eines Fernsehers, dessen Sender nicht eingestellt sind.

Die Vereinigung verschiedener Vorgehensweisen und Fragestellungen der Künstlerin wird in dieser Arbeit exemplarisch deutlich. Das Verwenden von vorgefundenen Gegenständen, der Einsatz von Wachs als Bindemittel der Grundfarben Gelb, Rot, Blau, die Zielscheibe und Wurfpfeile, schon in ihrer Installation in der „Mönchskirche“, Salzwedel, verwendet, sind markante Elemente, die kontinuierlich im Werk von Michaela Seliger auftreten. Neben diesen motivischen Gemeinsamkeiten kulminiert in dieser Arbeit die inhaltliche Auseinandersetzung der Künstlerin mit Fragestellung zur visuellen Welterfahrung des Menschen.

Mit der Erfindung des Fernsehers beginnt das teleoptische Medienzeitalter in dem wir uns heute befinden. Dank seiner Erfindung und der immer fortschreitenden Telekommunikation ist es möglich, jederzeit überall dabei zu sein. In seinem 1990 erschienenen Essay „L`inertie polaire“ beschreibt Paul Virilio diesen Zustand als „Leichenstarre der Bewegungslosigkeit“, als „rasender Stillstand einer Gesellschaft, die Zeit und Raum hochtechnologisch beherrscht, aber damit an der Auslöschung ihrer selbst arbeitet“.

Die Strategien von Michaela Seliger richten sich gegen die „Leichenstarre der Bewegungslosigkeit“, wirken der Bildüberflutung entgegen. Der Betrachter braucht Zeit, um ihre Installation in räumlicher und inhaltlicher Abfolge zu erfahren, muss sich einlassen auf Bild und Text des Werkes. Ihre 27-teilige Installation aus neu mit Wachs und Farbe bestrichenen Plexiglasscheiben, den neun Schiefertafeln und schließlich den neun hängenden Wachsobjekten verdeutlicht dies anspruchsvoll. Zuordnungen innerhalb der einzelnen Elemente stellen sich erst allmählich ein, Interpretationen zur Zahlensymbolik werden evoziert und das Verlangen eines genaueren Betrachtens wird geweckt. Textfragmente collagenartig integriert, provozieren Deutungen, die letztendlich verunsichern und mehr Fragen aufwerfen als beantworten. Das Wort „Mondfinsternis“ erhält im Zusammenhang mit den schwarzen Schieferplatten und den dunkelblau bestichenen Plexiglasscheiben eine Vielschichtigkeit, die über das Naturphänomen hinausgeht. Verdecken, Überlagern, etwa bei den vielen Schichten der in das heiß aufgetragene Wachs integrierten Farben Rot, Gelb und Blau wird zum Leitmotiv der Arbeit. Eine extreme Sinnlichkeit bestimmt die Wahrnehmung, wenn nicht nur gesehen, sondern die Oberflächenstruktur der Materialien mit den Augen gleichsam abgetastet wird.

Der Betrachter muss seine Positionen wechseln, auf und abgehen, den Abstand vergößern oder verringern, um die unterschiedlichen Aspekte der Arbeit wahrzunehmen. Neben die körperliche, sensuelle Erfahrbarkeit tritt die intelektuelle. Man realisiert die konzeptuelle Ausrichtung der Arbeit, die Auseinandersetzung mit dem Verhältnis von Bildhaftigkeit und dem Objekthaften der einzelnen Teile der Installation. Ihre Präsentation teilt sich mit als Hinterfragen herkömmlicher Bildrezeptionen. Das immaterielle der gegen die Wand gelehnten Plexiglasbildträger lässt die auf ihnen aufgetragenen Farben vor dem Hintergrund schweben. Die Schwere der Schieferplatten findet sich wieder in den Wandobjekten, die wiederum über das Wachs Beziehungen zu den wachsgebundenen Farben der Glasplatten aufnehmen.

Die Wachscollage „Decoy“ von 1991 ist im Vergleich zur oben besprochenen Installation mehr dem Medium der Malerei zuzurechnen. Wie bei den Wachsobjekten der Installation sind Materialwahl und integrierte Textfragmente bestimmend. Nicht ohne Ironie fungiert gerade das Wort „decoy“ (Köder, Lockvogel) als Blickfang, der die Aufmerksamkeit des Betrachters ins Bild leitet. Durch die verschiedenen Ebenen des Materialauftrags vollzieht er dessen Genese gleichsam nach und erfährt die Vielschichtigkeit der Komposition.

Reduzierter im Aufbau is eine Arbeit, die achtmal das Foto einen Ausschnitts aus einem Ornament mit Vogel zeigt. Die Photographien des einen Bildes sind so angeordnet, dass sie selbst wieder ein neues Ornament formen. Wie in den Druckgraphiken der Künstlerin wird auch hier das Verhältnis von Bild und Abbild hinterfragt. Wie wahr ist die Information unserer visuellen Wahrnehmung, welchen Echtheitsanspruch kann sie stellen? Durch die in breiten Pinselstrichen aufgetragene transparente Wachsschicht wird neben dem sinnlichen Aspekt der Arbeit diese inhaltliche Fragestellung vertieft.

Über das Abbild eines vorgefundenen, durch seine Multiplikation und Neuordnung veränderten Wirklichkeitsausschnitts legt sich die Instanz einer weiteren Schicht.

Aus zwei querformatigen Bildträgern ordnet Michaela Seliger zwölf Wachsabgüsse einer Dreierpackung von Wurfpfeilen nebeneinander an.

Wieder bildet das modifizierte Abbild einer vorgefundenen Wirklichkeit, hier das extrem triviale einer Verpackung, Ausgangspunkt der Arbeit der Künstlerin. Die Unregelmäßigkeit der einzelnen Abgüsse, das Fragile, Sinnliche ihrer Erscheinung verleiht ihnen eine Aura des Besonderen, hebt sie aus ihrem gewohnten Kontext heraus. Doch nicht die Nobilitierung des Alltäglichen, dafür sind sie in ihrer zufälligen Individualität zu unterschiedlich, sondern das bewusste Spiel, das konzeptuelle Zitieren ihrer eigenen Motive und Materialien steht im Mittelpunkt.

So setzt Michaela Seliger dem medialen Fastfood unserer durch Bildüberflutung geprägten Welt ihre sehr persönliche Sichtweise entgegen. Sie schafft Kunstwerke, die den Betrachter zum emotionalen und intelektuellen Dialog auffordern und so dessen Teilhabe bewirken.

Yilmaz Dziewior
OBJEKTE COLLAGEN RAUMINSTALLATION
7. November – 13. Dezember 1992
KUNSTVEREIN CELLE
Am Heiligen Kreuz 9, 3100 Celle